Wer sich schon einmal mit Online-Dating beschäftigt hat, wird auch über den Begriff des „Ghosting“ gestolpert sein. Aber was ist Ghosting eigentlich? Damit bezeichnet man das plötzliche Verschwinden des Gegenübers, wenn die oder der Gesprächspartner:in unvermittelt jede Kommunikation abbricht und sich einfach nicht mehr meldet. Das Phänomen, das bisher vor allem aus Apps wie Tinder, OK Cupid und Co. bekannt ist, hat sich laut Alexander Wilhelm, Managing Partner der InterSearch Executive Consultants, aber als Job-Ghosting bereits in die Arbeitswelt eingeschlichen.
Ghosting hat während Corona zugenommen
Wilhelm beobachtet einen Anstieg der Fälle, in denen sich Kandidat:innen im Recruitingprozess von einem Tag auf den anderen nicht mehr melden. Vor allem am Anfang des Prozesses kann es vorkommen, dass plötzlich jeder weitere Kontaktversuch fehlschlägt und die Kandidat:innen wie vom Erdboden verschluckt sind. Doris Schmalenberg, Consultant im Bereich Research bei InterSearch Executive Consultants, hat besonders in dieser Phase viel Kontakt mit den Kandidat:innen. Sie betont, dass es sich beim Job-Ghosting keinesfalls um ein Massenphänomen handele. Es sei allerdings bemerkbar, dass die Fälle während der Pandemie zugenommen haben.
Digitale Recruitingprozesse fördern Unverbindlichkeit
Vorstellungsgespräche in Videocalls waren in der Pandemie unerlässlich und behalten auch weiterhin Relevanz bei remote arbeitenden Kandidat:innen oder internationalen Suchen. Gleichzeitig beobachtet Wilhelm aber auch eine zunehmende Unverbindlichkeit, die durch den rein digitalen Kontakt verstärkt wird. Als Executive Search Consultant im Industriesektor hat er in den letzten Monaten vor allem bei weniger berufserfahrenen Kandidat:innen in rein digitalen Recruiting-Prozessen Ghosting-Erfahrungen machen müssen. „Später ist es mir aber auch bei erfahrenen Führungskräften aufgefallen. Auf der obersten Führungsebene beobachten wir dieses Problem allerdings nicht. Es geht eher um mittleres Management und die Spezialistenebene“, so Wilhelm. Es handele sich beim Job-Ghosting also nicht um ein ausschließliches Problem der jüngeren Generation.
Ghosting lässt Kandidat:innen unprofessionell aussehen
Wilhelm hat auch schon von ersten Einzelfällen bei Kunden erfahren, in welchen Kandidat:innen unangekündigt nicht zur persönlichen Vorstellung im Unternehmen erschienen sind. Ein InterSearch-Kunde, selbst Head of HR eines mittelständischen Unternehmens in der Software-Industrie, äußerte sich dazu: „Leider verlieren wir regelmäßig und öfter als noch vor 5 Jahren Software Entwickler und vergleichbare Profile im Rekrutierungsprozess. Die tauchen ab und melden sich einfach nicht mehr. Bei Führungspositionen ist dies eher selten der Fall.“ Wilhelm betont: „Das macht natürlich einen äußerst schlechten Eindruck und ist mehr als ärgerlich.“ Er ist froh, dass ihm dies noch nicht passiert ist. Trotzdem vergibt er bei plausibler Begründung auch zweite Chancen: „Aber man ist dann schon vorsichtiger und eine gute, enge Kommunikation im gesamten Suchprozess ist unerlässlich.“ Aus Gründen des Datenschutzes gibt es keine Möglichkeit für Berater:innen unzuverlässige Kandidat:innen auf eine Art „Black List“ zu setzen. Wer durch Unzuverlässigkeit und Unverbindlichkeit besonders negativ auffällt, muss aber damit rechnen, dass der Name im Gedächtnis bleibt, insbesondere wenn es bereits Kundenkontakt gab. Berater:innen haben noch wenig Handhabe, um Job-Ghosting vorzubeugen. Erfahrung, ein gesundes Bauchgefühl und ein waches Auge bei langen Reaktionszeiten seien aber Möglichkeiten, „verdächtige“ Kandidat:innen vorher auszusieben, erklärt Wilhelm.
Gründe für Job-Ghosting sind schwer nachzuvollziehen
Eine Kandidatin oder ein Kandidat, die oder der sich durch Ghosting aus der Affäre gezogen hat und plötzlich nicht mehr erreichbar ist, kann natürlich kein Feedback mehr geben. Daher sei es schwierig, Schlussfolgerungen zu ziehen, weshalb jemand plötzlich den Kontakt ohne Vorwarnung abbricht. Wilhelm vermutet eine Kombination aus verschiedenen Faktoren, die zum vermehrten Ghosting führen: „Im Industriebereich herrscht ein wachsender Mangel an spezialisierten Führungskräften. Möglicherweise herrscht bei einigen Kandidat:innen das Gefühl eines Überangebots an Stellen und der digitale Kontakt zu Berater:innen macht das Ganze noch unverbindlicher.“ Durch die Pandemie habe außerdem die Wechselbereitschaft generell abgenommen.
Absagen auf Augenhöhe fordert Courage
Dass Kandidat:innen trotz mangelndem Interesse in den Recruiting-Prozess einsteigen, findet Wilhelm bedenklich. „Ich als Berater bin ja kein Warenhändler. Man kommuniziert mit Menschen und gibt sich sehr viel Mühe, verbindlich und transparent zu sein.“ Er wünsche sich von seinem Gegenüber eine Absage auf Augenhöhe, diese könne auch per Mail oder besser telefonisch erfolgen, solange sie ehrlich und direkt sei. „Dann kann es natürlich sein, dass der oder die Berater:in nochmal nachfragt, woran es gelegen hat. Aber da sollte man auch die Courage besitzen, seine Entscheidung zu begründen.“